Grönland – Holidays on ice

Es war einmal – dieser Beginn trifft das Thema genau, denn schließlich ist Grönland ein Märchenland auf allen Ebenen. Eine märchenhaft essayistische Reisegeschichte

von einem Verehrer

Erlaubt mir deshalb auch diesen Einstieg: Ein eiskalter Wintertag und ich – frierend und von Kälte gebeutelt – an der Kassa des Kinozentrums. Die Wintermonate zählen absolut nicht zu meiner Wonnezeit, denn ich quäle mich jedes Jahr durch sie hindurch, vorausblickend auf die nächsten großen Frühjahrsreisen in warme Gefilde.
 

Jetzt stehe ich aber an der Kinokasse, Ausschau haltend nach dem passenden Film, um die Flamme an meiner Seite zum Schmelzen zu bringen. Die Auswahl und Verführung, einen guten Film zu sehen, ist groß, doch sie, die Flamme an meiner Seite, wollte partout den Film „Fräulein Smillas Gespür für Schnee“ anschauen.
 

Die freundliche Dame an der Kassa, die mein Vorhaben durchschaute und einen mitleidigen Blick auf meine vor Kälte schlotternde Gestalt warf, wünschte mir noch viel Spaß und ein herzliches „warm anziehen, denn es schneit den ganzen Film hindurch“, no na – er wurde ja in Grönland gedreht. Und etwas spöttisch meinte sie noch: „Genussmenschen sehen sich Filme dieser Art nur im Hochsommer bei 30 Grad im Schatten an.“
 

Nun, der Film hielt, was der Titel versprach: Die Kälte kroch von der Leinwand herunter, sank langsam und stetig über alle Sitzreihen und verwandelte den Kinosaal in ein Tiefkühlfach. Und ich saß da mit Wollmütze, Schal und Jacke und sah nur Schneeflocken um mich herumfliegen. Dies war mein erster Kontakt mit Grönland, abschreckend genug, um Land und Klima sofort und für ewig aus meinem Kopf zu streichen.
 

Jahre später saß ich in einer Air-Greenland-Maschine auf dem Weg von Kopenhagen nach Kangarlussaq an der Westküste Grönlands – ein Name, der schon beim Aussprechen einen Knoten in der Zunge verursacht. Beim Landeanflug kam mir gleich Fräulein Smilla in den Sinn, und erste Kälteschauer rieselten an mir herab.
 

Realität und Fantasie vermischten sich wild in meinen Gedanken. Der Captain startete die Triebwerke und die Stewardess bedankte sich durch das Bordmikrofon mit einem sonoren „thanks for taking the risk to fly with us to Greenland“.
 

Kein Bier auf Grönland?

War es meine Fantasie oder doch Realität? Ich hörte „Greenland“ und wusste, in wenigen Minuten betrete ich den Boden eines Landes, in das ich nie wollte. Die Maschine rollte langsam aus, die mitfliegenden Dänen erhoben sich freudestrahlend aus den Sitzen und stürmten – bewaffnet mit je zwei 6er-Boxen Heineken-Bier – über die Gangway. Ein erster schrecklicher Gedanke: Gibt es in Grönland vielleicht kein Bier und hätte ich doch lieber nach Hawaii fliegen sollen?

Im Reiseführer stand sinnigerweise, dass das einzige Exportgut Dänemarks leere Bierflaschen sein sollen, alles von dänischen Passagieren mitgebracht. Von wegen Grönländer haben ein Alkoholproblem… Der erste Besuch in der Dorfkneipe nach der Ankunft belehrte mich jedoch eines Besseren und ließ mich beruhigt an der Theke verharren.
 

So warm ist’s nur hier

Am nächsten Morgen stand ich dann da, auf den Eisfjord von Ilulissat blickend. Und plötzlich erfasste mich – tief aus dem Inneren strömend – ein herzerwärmendes Gefühl. Außer Eisbergen sah ich nur Eisberge und dahinter nochmals Eisberge. Ein Anblick von gewaltiger und anmutiger Schönheit, der in mir eine Wärmewelle nach der anderen emporströmen ließ. Und seltsam – mir war in Grönland nie mehr kalt.
 

Das ewige Eis

Es dauerte noch eine Woche und dann verstand ich es, ich war im Zauberland aus Fels, Sand und Eis angekommen, und jeden Tag nahm mich dieser Zauber ein Stückchen mehr gefangen und hält mich bis heute in seinem Bann. Eine Reise nach Grönland ist eine Reise zu unserem Ruhepol, denn eigentlich reisen wir ins Niemandsland der Elemente, in die Einsamkeit des ewigen Nichts auf Inseln des kargen Lebens und dennoch eine Welt voller Leben, voller Kulturen und voller Energie. Ihr werdet viel zu erzählen haben, wenn Ihr von Grönland zurückkommen, so viel verrate ich Euch schon jetzt, denn Ihr machen „Holiday on Ice“ – und das mit viel Bodenberührung.

Hundeschlitten

Die meisten Besucher kommen hierher, um zu wandern und um mit dem Boot durch den Eisfjord zu fahren, wenige um mit dem Hundeschlitten über Eis und Schnee zu gleiten. Aber genau das war es, was mich jetzt reizte. Ich traf Ulf, den ewigen Studenten aus Dänemark, der vor 12 Jahren hierherkam und nie wieder wegging – langsam lernte ich diese Faszination mehr und mehr zu verstehen. Er lud mich ein, drei Tage mit ihm und seinen Hunden quer durch die Eislandschaft zu gleiten und Robben zu jagen. Klar, dass ich mich nicht lange bitten ließ, nicht wissend, auf was ich mich da eingelassen hatte.
 

Beißende Kälte

Gehüllt, fast hineingewachsen in einen Ganzkörperseehundfellanzug (welch prächtiges Wort!), und so habe ich mich auch gefühlt. Und schon ging es los: Querfeldein rannte das quirlige Rudel von 12 Hunden, rastlos, ohne Pause. Der Schnee fegte mir über das Gesicht in alle Poren, und Ulf trieb seine Meute unaufhaltsam und mit halsbrecherischer Geschwindigkeit über Eis und Schnee.

Am Ende dieses ersten Tages kroch ich mit durchgeschüttelten Knochen in unsere Jagdhütte und versank, noch ganz in meiner zweiten Haut steckend, sofort im Tiefschlaf. Im Traum fand ich mich im geheizten Kinosaal wieder, und ein wilder Albtraum mit Vulkanausbrüchen und glühender Lava begleitete mich in den Morgen. Als ich aufwachte, wähnte ich mich in eine Zwangsjacke geklemmt.
 

Willi, der Walexperte

Nach drei Tagen auf dem Hundeschlitten fühlte ich mich bereits als Inuit und hatte die vor mir laufende und jaulende Hundebande fest in der Hand. Zurückgekehrt, erzählte ich mein Abenteuer Willi bei einem Drink in der Dorfkneipe. Willi stammt aus Bremerhafen und lebt seit mehr als 23 Jahren hier in Grönland. Ein Walexperte, wie es nur einen gibt. Er kann alle Wale, die jedes Jahr in großer Zahl vor der Küste Grönlands den Futterreichtum des Meeres leeren, nahezu riechen. Davon konnte ich mich am nächsten Tag überzeugen.

Wir starteten, um Buckel- und Finnwale zu suchen, die ihm andere Fischer gemeldet hatten. Es dauerte kaum eine Stunde und Willi hatte sie aufgespürt. Auf Schleichfahrt näherten wir uns einem der Meeresriesen – es war ein gigantischer Buckelwal. Als er uns erblickte, startete er seinen Tauchgang, kaum 5 Meter von unserer kleinen Nussschale entfernt. Ich wagte kaum zu atmen und überlegte fieberhaft, ob er nun unser Boot rammt und uns mit ins gerade mal 1 Grad kalte Nass zieht. Gespannt blickte ich auf seine riesige Flosse, die er wie zum Gruß aufrichtete und elegant wie ein Turmspringer abtauchte. Zehn Minuten später tauchte er Hunderte Meter entfernt wieder auf, warf sich auf den Rücken und winkte uns mit seiner Bauchflosse zu, geradezu so, als wollte er Willi, den Seebären, begrüßen. Was für ein Anblick, was für ein Tag, wert, in das Logbuch des Lebens eingetragen zu werden.